Texte
Dr. Klaus Speidel
Helmut Stadlmann, « 11 Farben. Algorithmische Veduten, Variationen, Abschweifungen »
In Kunst und Illusion hat Ernst Gombrich die Geschichte der künstlerischen Annäherung
an die Wahrnehmung packend erzählt und erklärt. Obwohl Kunstkenner*innen über den Glauben,
dass Zeichnungen und Malereien umso besser seien, je mehr sie einem Foto ähneln,
nur noch lächeln, gibt es auch heute noch viele Künstlerinnen und Künstler für deren
Praxis optischer Realismus wesentlich ist. Helmut Stadlmann aber hatte nie viel für
Illusion oder optischen Realismus übrig. Das lag nicht an mangelnden Fähigkeiten.
Bereits in den ältesten Arbeiten auf seiner Website, zeichnet er mit Kugelschreiber
und Filzstift subtilste Gefühlsvariationen in ein sich immer neu wiederholendes imaginäres
Gesicht. Schaut man sich diese Zeichnungen an, versteht man aber auch, dass es ihn
nicht interessiert, « nach der Natur zu kopieren », wie es Karl Kraus einmal genannt
hat, wenn Künstlerinnen und Künstler, wie Kraus sagt, « den Nichtkenner durch eine
gewisse Ähnlichmacherei verblüffen ».
Diese hat übrigens auch heute noch ihren Platz in der Kunst, denn auch in den letzten
Jahren haben es viele zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler mit verblüffender
Ähnlichmacherei in Ausstellungen und Sammlungen der Albertina geschafft. Sie müssen
nur in Serien arbeiten und ihren langweiligen hyper-realistischen Zeichnungen irgendeinen
konzeptuellen und scheinbar klugen Vorwand geben.
Helmut Stadlmanns Position ist die eines Suchenden, der sich nie auf einem Ansatz ausruht.
Malt er Veduten, wie sie im Mai 2025 im Kunstverein Baden zu sehen sind, kommen mindestens
« Variationen » und meistens auch « Abschweifungen » hinzu. Wonach er dabei sucht, sind
nicht nur Themen, sondern vor allem auch neue Methoden und Ausdrucksformen, um sich diesen
zu nähern. Birgit Jürgenssens Satz: « Ich will mir kein Markenzeichen ausdenken. Ich will
lieber experimentieren » könnte auch von ihm stammen und wie Jürgenssens fantastisches
Werk steckt auch Stadlmanns Arbeit voller Überraschungen. So habe ich mich stundenlang
durch den « Storage Space» auf seiner Website geklickt und dabei mehr Originelles entdeckt,
als in Wochen auf Instagram. Im April 1974 — also vor immerhin 51 Jahren — entstehen
gestisch-abstrakte Porträts mit Bleistift in Istanbul: Bilder von Freunden, nackte Haut… :
Dinge, die uns allen Anfang Zwanzig wichtig sind oder waren. Spannender als die Inhalte ist aber
schon hier die Form: Stadlmann streift optischen Realismus kaum, fängt aber doch Wesentliches
ein. Dabei scheint er mindestens genauso an seinen Handbewegungen interessiert zu sein wie
an den Szenen selbst — was vielleicht auch 2025 noch gilt. Im Jahr darauf folgen plötzlich
säuberlich mit Aquarell gemalte Reihen von Früchten, die auch bei Drawing Now, der
vielleicht wichtigsten Messe für aktuelle Zeichnung in Paris, noch frisch wirken würden.
Das liegt nicht nur an den Früchten selbst, sondern auch daran, dass sie sich ab dem zweiten
Blatt auflösen, so dass die sechste Reihe jeweils aus säuberlich gemalten Farbklecksen besteht.
« Säuberlich gemalte Farbkleckse » — solche scheinbaren Paradoxien finden sich in Stadlmanns
Arbeit zuhauf. Ein Jahr später— er ist immer noch Mitte 20 — malt er durchbohrte Herzen auf
linierte Karteikarten. Diese stehen für peinliche Ordnung, Wirtschaft und Organisation,
jene für Liebespein und Emotion.
1978 entdeckt er die Tusche, die ihn zwei Jahre beschäftigt. Es folgen Duelle mit dem
künstlerischen Medium schlechthin: Ölmalerei. Zwischen 81 und 85 entstehen expressive
Bilder, manche als Gemeinschaftsarbeit mit Jakob Gasteiger und Joseph Heer. 1986 kommt
die Tusche wieder ins Spiel und die Arbeiten werden spielerischer, aber auch konzentrierter.
Ab 1987 nähert er sich dann den Themen, die auch 2025 noch wichtig sind: In den Titeln
taucht der Begriff « Konstruktion » auf und in den Bildern erscheint erstmals ein Raster,
wie das, das auch den aktuellen Arbeiten zugrunde liegt. Von 90-94 gibt es wenig Zeichnung,
weil Stadlmann viel Musik und Video macht, bei Peter Weibel unterrichtet und an der
Neugestaltung der Identität des ORF unter Neville Brody mitarbeitet. 1994 taucht das
Raster wieder auf, wird aber zum objekthaften Gitter, das auch sogleich wieder hinter
weißen Malereiwolken verschwindet. Die Gitter selbst bringt Stadlmann durch Laserkopien
aufs Papier.
Die Grundprinzipien seiner Arbeit sind aber ab 1989 definiert, auch wenn das ihm noch
nicht bewusst sein mag: Die Kombination strenger Struktur mit freier Gestaltung, das
Analoge in Zusammenspiel mit dem Digitalen und die Arbeit der Maschine mit dem Menschen.
In den Werken von 1989 hat er mit dem Atari Computer Wireframes gemacht, sie mit dem
Nadeldrucker ausgedruckt und dann mit spontanen Zeichnungen auf sie reagiert. Paradoxien
tauchen hier in den Titeln gleich doppelt auf, nämlich in « Conceived Improvisations
» — etwa Geplante Improvisationen — wie der Übertitel der Serie lautet und in
« A Construction of Chance » — also Konstruktion des Zufalls, wie die einzelnen Blätter
betitelt sind. Aber wenn eine Improvisation durchgeplant ist, ist es dann noch eine Improvisation?
Und wenn ein Zufall konstruiert ist, ist es dann noch ein Zufall oder nur ein scheinbarer? Ich s
elbst habe dazu in einem Vortag über Innovation im Max Planck Institut den Begriff
« Systematic Serendipity » geprägt. Im Allgemeinen versteht man unter Serendipität eine
zufällige Entdeckung. Ein berühmtes Beispiel ist die Entdeckung des Penizillins durch Fleming,
der beobachtet hat, dass seine durch Unaufmerksamkeit verschimmelten Bakterienkulturen
abgestorben waren. Anstatt sie einfach wegzuwerfen, wie vermutlich viele Wissenschaftler
es vor ihm getan haben, besaß er die Klugheit, genauer hinzusehen und hat so das Penicillin
entdeckt. Das ist Serendipity, denn Horace Walpole, von dem der Begriff stammt, hat damit
eine Form « praktischer Klugheit » gemeint: Nämlich die Fähigkeit etwas zu finden, das
man nicht gesucht hat oder auch etwas dort zu finden, wo man es eigentlich nicht gesucht
hatte. Wie entsteht aber Serendipität systematisch? Die Antwort ist zweiteilig: Erstens d
urch das Schaffen von Bedingungen, die genug Spielraum für das Unerwartete lassen —
Ich glaube, dazu dienen bei Stadlmann die Algorithmen, die er sich selbst ausdenkt — und zweitens
durch eine bestimmte geistige Verfassung: die Offenheit für Lösungen, die man nicht gesucht
hat und für Spontaneität.
Der Begriff der « Systematischen Serendipität » könnte auch die neuesten Werke noch trefflich
beschreiben. In diesen Arbeiten ist das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine verborgener
als in den früheren, aber immer noch wesentlich. Wie Albrecht Dürers Quadratnetz, das er
als Hilfsmittel für perspektivische Darstellungen einsetzte, liegt ihnen ein Raster zugrunde,
das Stadlmann gelegentlich für uns sichtbar macht. Mit Dürer ist ein Bezug zur Tradition
gesetzt, der nicht rein rhetorisch ist. Denn auch wenn Stadlmanns Werke immer modern anmuten, s
pielt Kunstgeschichte eine wichtige Rolle für sie und tatsächlich gibt es sogar eine Zeichnung,
die eine von Dürers Darstellungen des Sündenfalls zeigt, über die ich mehrfach geschrieben
habe, weil Dürer darin zeichnerisch das christliche Narrativ der Urschuld Evas — und damit
der Frau — infrage stellt, welches Jahrhunderte lang zur Rechtfertigung des Patriarchats
wird. Aber auch im Titel der Ausstellung im Kunstverein Baden, nämlich « 11 Farben.
Algorithmische Veduten, Variationen, Abschweifungen », ist der Traditionsbezug unüberhörbar.
« Vedute » ist ein alter Begriff für eine Stadtansicht. Die Kombination mit « algoritmisch
» klingt wiederum paradoxal, ist aber durchaus sinnvoll. Denn Algorithmen sind, das müssen
wir uns merken, zunächst einmal Handlungsanleitungen und weil der Begriff nichts über die
Umsetzung sagt, können hier Menschen genauso wie Computer tätig werden. Algorithmische Veduten
könnten also Ansichten sein, die einer bestimmten Handlungsanweisung folgend realisiert wurden.
Was Stadlmann aber zur Ansicht bringt, sind digitale Welten, von denen noch zu sprechen sein wird.
Ein zweiter Traditionsbezug steckt in den « Abschweifungen »: Denn die bildlichen Darstellungen
von Köpfen, Landschaften, Schmetterlingen muten nicht nur traditioneller an als die
Darstellungen mit den Punkten, sondern weisen Bezüge zu Künstlern Kitai, Morandi, oder
auch Hélion und Schmalix auf.
Die verschiedenen Bewegungen in Stadlmanns Arbeit sind faszinierend. Aber mindestens so
sehr wie die Unterschiede, interessiert mich das, was bei allem Hin und Her konstant bleibt —
oder mit neuem Gesicht immer wiederkehrt. Dazu gehört ist das Oszillieren zwischen dem
strengen Plan und der Handlungsanleitung einerseits und der künstlerischen Freiheit und
Spontaneität andererseits. Den Computer hat er dabei — modern gesagt — in seinen « Workflow »,
also seinen Arbeitsablauf komplett integriert, ohne dass das maschinelle immer explizit sichtbar
würde. Seine Algorithmen — also präzise Handlungsanleitungen — entwickelt er (wie übrigens
Programmierer bis vor Kurzem auch) im Kopf. Wie genau geht er dabei vor? Am Beginn der Umsetzung
steht der Computer. Auf einem riesigen und potentiell unendlichen Raster positioniert er Kreise.
Dann entwickelt er Algorithmen, um die Veränderung und Verschiebung der Kreise anzustoßen.
Ausgehend vom veränderten Bild, entwickelt er wechselnde Regeln zur Auswahl möglicher
Ausschnitte. Bewaffnet mit einer dieser Regeln, macht er sich auf die Suche nach Ausschnitten
aus dem Gesamtraster, die er gerne aufs Papier bringen will, wählt einen Ausschnitt aus und
reproduziert ihn von Hand. Die Integration von Computer und Mensch in Stadlmanns Arbeit ist
ein Modell der Arbeit für Gegenwart und Zukunft. Denn dabei wird sich bald weniger die Frage
stellen, was nur wir Menschen können — davon wird es in Zukunft immer weniger geben — sondern
eher die, an welcher Stelle wir noch aktiv intervenieren wollen. Nicht weil die Maschinen es
nicht auch könnten, sondern entweder weil es Teil unserer Selbstdefinition ist oder wir das
Gefühl haben, dass wir es in irgendeiner — womöglich ganz subjektiven Weise — besser können,
es vielleicht unsere Arbeit für uns selbst ausmacht oder einfach das ist, was wir an ihr mögen.
Ich glaube, trotz aller Rationaliät, spielt dieses Lustprinzip auch bei Stadlmann eine
wesentliche Rolle und ist ein Grund dafür, dass er die Ergebnisse seiner digitalen Scharaden
nicht einfach ausdruckt. Deswegen ist Stadlmanns Kunst auch nicht konzeptuell im strengen
Sinne Sol LeWitts, für den « alle Planungen und Entscheidungen im Voraus getroffen werden »,
so dass « die Ausführung eine ganz nebensächliche Angelegenheit ist ». Bei Stadlmann sind die
Präsenz und Sichtbarkeit der Hand in der Ausführung wesentlich. Das wird deutlich, wenn der
Künstler selbst darüber spricht: « Wenn man zeichnet », hat er mir kürzlich gesagt, « dann
beschäftigt man sich ja nur mit dem Greifbaren. Deswegen gebe ich das Stricheln nicht aus der Hand,
weil das die Verbindung zu meinem existenziellen Sein ist. Ich fühle mit der Hand. In den Strich,
den ich aufs Papier bringt, auch wenn er noch so grad ist, kommt das rein, was kreatürlich ist.
Das ist anders als wenn ich immer nur mit einer Maschine kommunizieren würde, per Maus und
dann aus einer anderen Maschine, einem Drucker, etwas rauskäme. » Weil es aber nicht aus dem
Drucker, sondern aus Stadlmann herauskommt, können wir als Spurenleserinnen und Spurenleser die
Handbewegungen und ihre Intensität intuitiv erfahren. Wie die « Abschweifungen » oder « Kontrapunkte »
bringen sie menschliche Freiräume ins System. Stadlmann gibt sich zwar selbst Prinzipen, lässt
sich von diesen aber nicht komplett dominieren. Das ist, glaube ich, eine wunderbare Inspiration
für unser eigenes Leben.
Abschließend noch ein Hinweis zur Konstellation von Punkten, der ihnen das eigene Erforschen des
Kosmos Stadlmann erleichtern soll. Wie kommt es zu den Bildern? Die kurze Antwort ist: Es ist
systematisch, aber komplex. Nur so viel: Die Drehung um 23 Grad und die Verdoppelung der Größe
der Kreise spielen dabei eine grundlegende Rolle. Außerdem haben unterschiedliche Bilder
gewissermaßen einen unterschiedlichen Zoomfaktor: Wir sind dem Raster näher oder weiter von
ihm weg. Für die Auswahl der Ausschnitte kommen wiederum Stadlmanns Algorithmen ins Spiel,
z.B. « Nimm nur Ausschnitte mit Kreisen, die ganz in den Ausschnitt passen und sich überschneiden
» oder « Nimm nur Ausschnitte mit Kreisen, die sich überschneiden und den Rand berühren » —
ein möglicher Zugang zu den Arbeiten besteht deshalb darin, zu versuchen, diese Prinzipien
zu rekonstruieren — an einigen Stellen hat Stadlmann sogar subtile Hinweise platziert, die uns
dabei helfen sollen und er hat auch ausgiebig darüber geschrieben. Spielen Sie dieses Spiel
doch einmal selbst und wenn Sie nicht weiterkommen, helfen Ihnen Stadlmanns Erklärungen
sicher auf die Sprünge.
Klaus Speidel, Wien, adaptiert von einem Einführungsvortrag im Kunstverein Baden, 26.4.25
„…, trotzdem ist die wahl der figur vitus bering nur als standort zu werten,
von dem aus beziehungen hergestellt werden, wie der fischer ein netz wirft,
in der hoffnung, etwas zu fangen.“
Konrad Bayer, Sämtliche Werke Band 2, Wien 1985, S 168
Es ist ein Denken in Bildern. Zumindest der Versuch in Bildern zu denken
(deshalb sage ich auch oft „experimentelle Bilder“). Teile aufeinander beziehen.
H S
„…..von seinen Vorstellungen der geistigen Arbeit in (komponierten, scheinbar
unwillkürlich aufeinander bezogenen) Fragmenten, davon, dass der wesentliche
Dialog nur ein Selbstgespräch sein kann, ….“
Franz Schuh, Memoiren, Wien 2008, S 95
Von der Orientierungslosigkeit zur Desorientiertheit hin zu Bildungsversuchen.
Wer war das? Was war das? Was ist das? Wer ist das? Wie geht das? Angeborener
Forschungsauftrag und der Wunsch nach Ganzheit, wenn nicht Vollständigkeit.
Versuch zu denken. Fragment als das bestmögliche Ergebnis.
H S
„…Überlagerungen und Mängel erinnern an jene, die Franz Kuhn einer gewissen
chinesischen Enzyklopädie nachsagt, die sich betitelt: Himmlischer Warenschatz
wohltätiger Erkenntnisse. Auf ihren uralten Blättern steht geschrieben, dass die Tiere
sich wie folgt unterteilen: a) dem Kaiser gehörige, c) einbalsamierte, c) gezähmte,
d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) streunende Hunde, h) in diese
Einteilung aufgenommene, i) die sich wie toll gebärden, j) unzählbare, k) mit feinstem
Kamelhaarpinsel gezeichnete, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben,
n) die von weitem wie Fliegen aussehen.”
Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke, Der Essays dritter Teil, München Wien 1991, S 111
„wenn der leser einen gewinn aus der lektüre meines buches ziehen kann, so wird das,
hoffe ich, ein gefühl davon sein, dass er sich mit aller kraft gegen den beweis,
gegen die kontinuität und die kontingenz, gegen die formulierung, gegen alles richtige,
unabwendbare, natürliche und evidente richten muss, wenn er eine entfaltung seines
selbst – und sei es auch nur für kurze zeit – erleben will. möge er bedenken, welcher
kraft, welchen formats es bedarf, gegen eine im großen ganzen abgerundete, stimmige,
einhellige welt aufzustehen, wie sie uns in jedem augenblick an den kopf geworfen wird:
er wird mir verzeihen, wenn ich die richtigen ansatzpunkte selten gefunden und in
vielem über das ziel hinausgeschossen habe.“
Oswald Wiener, die verbesserung von mitteleuropa, roman, Reinbek 1972, S 191
Opelgelb die Zitrone / Fordblau der Himmel / Elfenbeinflügel belüften das Gehirn /
Die Frisur juckt / Es klebt der Frisör / Hallelujah! Engel der Märtyrer! /
Ein braunes Getöse fährt zum Himmel / Schwefelduft und Elefantengestank! /
Gelbe Wolke Teufelszeug / Knittelfeld war besser! / Der Schofför lüpft die Kappe /
Und zeigt sein Vogelnest / Ha ha ha ha hi hi hi hi ho ho ho ho /
Den Gurkenwitz erzähle ich gern.
HS 1989
„Die „eigentliche Politsierung“ ist der Idealfall, bei dem man eine Ahnung davon
erwirbt, wer die anderen sind und wer man – im Verhältnis zu diesen anderen – selber
ist, und was man auf der Grundlage dieser (Selbst-) Erkenntnis tun kann und was nicht.“
Franz Schuh, Memoiren, Wien 2008, S 91.
„I got a restless fever / Buried it in my brain/Better keep right forward / Can’t spoil the game
The same way I’ll leave here / Will be the way that I came / Got a restless fever / Buried it in my brain“
Bob Dylan, If You Ever Go To Houston, in Together Through Life, Columbia/Sony Music 2009
Im Rest denkt man sich
Helmut Stadlmanns Bilder leiden am Denken; an der Erfahrung, dass das Auge sich
für sich eine gewisse Erfahrung und gewisse Manieren aneignet. Sie erzeugen sich aus
einem Dualismus, der sich bestreitet und ergänzt – und das ist der des Bildes und der
des Verfahrens der Bildwerdung, welcher aus einem vormaligen Ganzen zu lesende Stücke
macht und der Freilegung seiner strategischen Organisation dient.
Dieses Verfahren, in dem ein “klassischer” Vorentwurf durch die konkrete Arbeit mit
der Schere zerschnitten wird und die Teile, die aus diesem Reduktionsvorgang entstehen
zum verlorenen Ganzen einer matritzenhaften Ordnung wiederhergestellt werden, sodass
die neuen Teile als Bilder für sich selbst und als Konkretisierung des vormaligen
Ganzen behandelt werden, weiß sich nur von sich selbst angeschaut: Stumme Forderung,
um die eine Leere entsteht, immer mehr Leere.
Reduktion hat eine Logik, nämlich die, welche innerhalb eines formalen Systems die
Verknüpfungen einzelner Teile zu einer Grammatik regelt. Das erlaubt ihr eine klare
Unterscheidung zwischen den Regeln der Form und deren Kompositionsverfahren sowie
der Morphologie des “malerischen Stils” zu treffen. Der des malerischen Stils, der sich
in diesen Bildern ebenfalls thematisiert: In der Arbeit aus dem schwarzen Grund; in
der Arbeit aus dem weißen Grund; – sprich, in der Verdichtung der Luzidität; im Fließen
der Farbe und im Stehen des deckenden Pinselstriches; in der Verwendung der “reinen”
Farbe und in der Verwendung der Zeichnung. Bilder die etwas von Entwürfen von Bildern
an sich haben.
Stadlmanns Arbeiten sind gleichsam eine Markierung des Gleichgewichtszustandes
zwischen den einzelnen Krustenstücken der Bild(ober)fläche und den darunter befindlichen
Zonen der Krusten eines “intensiven Realen”. Ein Teil des vermeintlich erzeugten Ganzen
wird in ihnen vollständig geopfert um es nicht als Beute einer Illusion tautologischer
Ordnung aufs Spiel zu setzen. Sie sind dadurch das Gegenteil einer Collage, weil in
ihnen nicht Bedeutungen ironisiert werden oder die neue Umgebung Bedeutungsfelder
eröffnet, sondern weil die Bedeutungen durch den Vorgang der Reduktion veschärft
werden und so erst unsicher. – Jede Veränderung, ja die Bewegung selbst, würde
durch den tautologischen Charakter Collage ja ausgeschlossen.
Die Konstruktion von Bildern im Betrachter ist eben etwas wesentlich anderes,
als zum Beispiel die grüne Farbe, welche der im Bild untersuchte Gegenstand
vielleicht hat. Es sind also eher unsere Vorstellungen, die wir das Bild untersuchend
finden, als jene des untersuchten Bildes.
Assoziation ist in Stadlmanns Bildern grammatisches Bewußtsein, – Verklebung und
Verwachsung durch eine rigide Ordnung: die Ordnung der Schärfe der Schere und die
Ordnung der Matrix. Jene Schärfe der willkürlichen Grenzziehung zwischen den Schichten.
Sicher, die Erscheinungen lassen sich auch in einzelne Elemente zerlegen, wie dies der
Kubismus versuchte; umgekehrt lassen sich die Erscheinungen aber aus den Elementen
aufbauen. Dann steht, wie hier, die Wiederherstellung der untersuchten Objekte im
Vordergrund dieser Geflechte. Auf der Basis von “falschen” Gesetzen, die nicht den
ganzen “möglichen” Bildinhalt zur Darstellung bringen – also sich divergierend verhalten
gegenüber dem vorschnellen Abbild von Wirklichkeit. Berührung findet nicht den ganzen
Inhalt: Mir erscheinen die Bilder im fliegenden Wechsel von Schichten, deren Ausmündungen
ins Reale nur den fermentierten Raum des Außen und der Oberfläche vorgeben. Durchgänge
für das Denken, welches den Weg finden muss, um im Erkennbaren mit dem darggestellten
zusammenzutreffen, – als Distanzierung von der Sehgewissheit, in der das Vertraute
Sichtfeld die Kritik seiner Begrenztheit erfährt. Es ist erblickt und es ist Objekt
im Tableau. Wahrheit ist nicht, sie ist die Schöpfung menschlichen Denkens gegen die
sich immer verändernde Struktur des Wirklichen.
So könnte man Helmut Stadlmanns Malweise auch “das mit dem Wirklichen, dem
Konkreten wachsende Unbehagen – durch die Schlaffheit die das Reale mit sich bringt -”
nennen, besessen vom Konkreten, welches ständig entgleitet. Oder auch “das was im
Augenblick des Bildes durch die Verwendung des Schnittes, der Matrix und der Farbe zu
entdecken ist”: ein gerade in dem Augenblick erworbenes Mittel, das überhaupt erst in
die Lage versetzt, den mentalen Raum aus unterschiedlichen Strukturen aber konstanten
Hauptelementen zu rekonstruieren. Die Matrix ist dabei gleichsam ein Verzeichnis
der Wegnahmen und des gegenwärtigen Augenblicks, der einen in die Lage versetzt,
derVollständigkeit des Vergangenen nachzuspüren. Die “Schnitte” könnte man –
metaphernd – als die “Schneisen des Konkreten” bezeichnen. Das wird auch in
Stadlmanns Video “Gesicht” (1986) deutlich. Da ist die Uhr und da ist die Matrix.
Beide eine Art Stellvertreter der “reinen Idee”.
Georg Schöllhammer, Katalogtext Ausstellung in der Galerie
der Secession, Wien 1987.